Für alle, die sich mit ihrer Stimme manchmal im Zweifel verlieren.

Ich erinnere mich noch gut an einen dieser typischen Momente, wie ihn wahrscheinlich viele kennen, die mit ihrer Stimme arbeiten. Ich war allein im Musikzimmer, hatte gerade eine Aufnahme gemacht und hörte sie mir neugierig an. Schon nach den ersten Sekunden spürte ich, wie sich mein Bauch verkrampfte. Diese Stimme klang... anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Fester, angespannter, nicht so frei, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich fragte mich: Das soll ich sein?

Und noch bevor ich weiterdenken konnte, war er da. Dieser vertraute Vergleichs-Gedanke: Andere klingen klarer. Flexibler. Irgendwie weiter. Ich nicht.

Wenn du solche Gedanken kennst, möchte ich dir sagen: Du bist nicht allein. Viele Sängerinnen und Sänger erleben genau das. Diese Gedanken bedeuten nicht, dass du falsch bist. Sie zeigen nur, wie wichtig das Singen für dich ist.

Ich habe im Laufe der Jahre viele verschiedene Arten von Gesangsunterricht erlebt. Manche Stunden waren stark auf Fehlervermeidung ausgerichtet. Es wurde viel korrigiert, aber wenig gespürt. Und obwohl ich technisch vermeintlich weiterkam, fühlte ich mich oft klein. Nicht gut genug. Auch mit diesen Erfahrungen bin ich nicht allein. Wenn ich mich mit Kolleginnen austausche, höre ich oft ähnliche Geschichten. Der Spaß an der eigenen Stimme weicht dem Leistungsdruck. Gerade im Studium ist das für viele traurige Realität. Erst in einem Unterrichtskontext, der meine Neugier, meine Freude und mein Vertrauen gestärkt hat, konnte sich meine Stimme wirklich entfalten.

Seit einiger Zeit arbeite ich regelmäßig mit Christoph Wendel in Mainz. Seine Haltung hat meine Sichtweise komplett gedreht. Es geht nicht darum, etwas besser zu machen, sondern das Potenzial zu entdecken, das längst da ist. „Besser spiegelt nicht wider, was hier gerade passiert. Die Konnotation ist, dass es vorher nicht gut genug war. Wir machen nichts besser, wir veredeln.“ Oder in meinen Worten: Die Frage, die uns begleiten darf, ist nicht “Bin ich gut genug?”, sondern “Wie schön kann es denn noch werden?”.

Dieser Unterricht erlaubt mir, ganz ich selbst zu sein. Es gibt keine Checkliste, die erfüllt werden muss, um weiterzukommen. Kein „Du bist noch nicht so weit!“ und keine stillen Erwartungen im Raum. Es zählt der Klang, die Musik und die Verbindung. Es geht nicht ums Optimieren, sondern darum, die Möglichkeiten in meiner Stimme zu entdecken, die vielen Farben, Räume, Gefühle und Nuancen, die zum Vorschein kommen können, wenn ich sie erst einmal wahrnehme, erforsche und dann übe. Schließlich kann ich aufhören, meine Stimme zu kontrollieren und ihr stattdessen vertrauen, dass sie mich bestmöglich in meinem Ausdruck unterstützt.

Wenn es Dein Ziel ist Selbstbewusst deine Stimme zu nutzen, könnten diese Gedanken ein Anfang sein

Du musst dich nicht erst verbessern, um dich selbst zu mögen.

Selbstakzeptanz beginnt nicht erst nach dem nächsten Entwicklungsschritt. Nicht erst, wenn der Ton sitzt, der Ausdruck fließt oder der Mut sich stabil anfühlt. Sie beginnt genau jetzt. Mit dem, was du heute mitbringst. Mit dem Klang, den du gerade hast. Mit deiner Geschichte, deinen Zweifeln, deinem Mut und deinen Fragen. Du darfst dich mögen mit dem, was da ist, und gleichzeitig Lust auf Veränderung haben. Es ist kein Widerspruch. Im Gegenteil, wahres Wachstum entsteht nicht aus Druck, sondern aus Zugewandtheit.

Wenn du dich das nächste Mal dabei ertappst, wie du dich über einen unsicheren Ton, einen Wackler oder einen vermeintlichen Fehler ärgerst, stell dir vor, du würdest nicht dir selbst zuhören, sondern einer guten Freundin. Würdest du sie genauso streng beurteilen? Oder würdest du vielleicht eher sagen: Ich mag dich, gerade weil du dich traust und dranbleibst. Und ich bin echt gespannt, was sich bei dir noch alles zeigen darf. Was wäre, wenn du dir selbst genau so begegnen würdest? Mit Freundlichkeit. Mit Geduld. Mit Neugier auf das, was in dir wächst. Nicht erst morgen. Sondern heute schon. Jetzt.

Vergleich ist ein Trick der Unsicherheit 

Wir schauen auf andere, hören ihre Stimmen, ihre Songs, ihre Ausdruckskraft und plötzlich glauben wir, sie seien weiter, besser oder richtiger. Doch der Maßstab, an dem du dich misst, passt vielleicht gar nicht zu deinem Körper, deiner Geschichte oder deiner Musikalität. Deine Stimme hat ihren eigenen Weg, ihre eigene Form, ihr eigenes Tempo.

Wenn du merkst, dass du dich im Vergleichen verlierst, dass dich andere Stimmen, ihre Erfolge oder ihre Art, sich auszudrücken, eher klein machen als inspirieren, dann mach eine Pause. Leg das Handy weg. Atme. Und tu etwas, das dich mit deiner eigenen Stimme verbindet. Vergleich kann lähmen, aber Tun belebt. Manchmal reicht schon etwas Kleines. Sing einen Ton. Schreib einen Satz. Nimm eine Sprachnotiz auf, nur für dich. Etwas, das dich daran erinnert: Ich bin da. Ich darf klingen.

Und vergiss nicht: Dass du dich vergleichst, bedeutet auch, dass dir das, was du tust, wichtig ist. Dass du berührt bist. Dass du wachsen willst. Vielleicht kannst du diesen Moment nutzen, um dich nicht zu entmutigen, sondern tiefer mit deiner eigenen Leidenschaft in Kontakt zu kommen.

Vertraue dem Tempo, das du brauchst

Es gibt keine Deadline für deine Entwicklung, keine Pflicht, heute schon dort zu sein, wo du morgen hinwillst. Deine Stimme entfaltet sich nicht nach dem Prinzip schneller, besser, höher, sondern in dem Moment, in dem du ihr Raum gibst. Was heute noch leise ist, darf morgen laut werden oder auch nicht. Alles in deinem Tempo. Unser Körper speichert Bewegungen, Klänge und Reaktionen als Gewohnheiten ab, wie eine vertraute Choreografie. Wenn wir unter Stress performen, greift unser System automatisch auf diese verinnerlichten Choreografien zurück, nicht weil wir versagen, sondern weil unser Nervensystem Sicherheit sucht und sich in bekannten Bahnen am sichersten fühlt.

Vielleicht kennst du das. Du nimmst an einem Workshop teil. Arbeitest intensiv an einem Lied, probierst Neues aus, öffnest dich und findest Momente, in denen alles frei und leicht klingt. Doch am Abend, wenn du auf der Bühne stehst, fühlt sich plötzlich alles wieder wie vor dem Workshop an. Die neue Erfahrung ist nicht abrufbar und die Stimme klingt, als wärst du zurück am Anfang. Das kann sich wie Scheitern anfühlen. Ist es aber nicht! Es ist vielmehr ein Zeichen dafür, wie tief verwurzelt unsere alten Gewohnheiten sind. Sie brauchen Zeit, um sich zu verändern, sich neu zu verankern und stabil zu werden. Veränderung ist kein Sprung, sondern ein Prozess, oft unsichtbar und leise. Der Moment auf der Bühne zeigt dir nicht, dass du nichts gelernt hast, sondern dass dein Körper und deine Stimme noch Zeit brauchen, um das Neue zu integrieren.

Diese Zeit darfst du dir nehmen. Geduld mit dir selbst zu haben heißt nicht, stillzustehen, sondern dem Wachstum Raum zu geben, auf deine Weise, in deinem Tempo. Und das ist genau der Weg, auf dem deine Stimme wirklich lebendig wird.

Erlaube dir, nicht zu gefallen

Nicht jeder Ton wird immer glatt, warm oder voll klingen. Und das ist nicht nur in Ordnung, das ist richtig gut so. Immer nur schön zu singen wäre super langweilig. Die wahre Schönheit einer Stimme zeigt sich oft erst dann, wenn wir aufhören, sie kontrollieren oder perfekt machen zu wollen. Wenn wir uns ehrlich zeigen, nicht trotz, sondern gerade mit all unseren Brüchen, unseren Unsicherheiten und den besonderen Farben, die unsere Stimme einzigartig machen.

Deine Stimme ist nicht dazu da, anderen zu gefallen. Sie ist dein ganz persönliches Ausdrucksmittel. Sie erzählt deine Geschichte und trägt deine Gefühle. Die optimale Stimmfunktion zu erleben kann etwas fast Magisches sein. Ich erinnere mich gut daran, wie sich meine Stimme nach und nach immer mehr öffnete. Es fühlte sich an, als würde ich fliegen, so leicht und frei, als hätte die Schwerkraft für einen Moment aufgehört zu wirken.

Doch kein Song möchte durchgehend perfekt, glatt und voll gesungen werden. Dabei würde der Charakter verloren gehen. Musik lebt von kleinen Brüchen, von Luftigkeit, von gezielten Unebenheiten und spannenden Ecken und Kanten. Wir dürfen hauchig singen und knarzen, wir dürfen unsere Stimme brechen lassen, Geräusche machen, die für sich genommen vielleicht nicht als schön gelten, aber die in ihrer Gesamtheit voller Ausdruckskraft und Magie stecken.

Nimm deine Zweifel mit ins Boot

Ängste und Zweifel sind kein Fehler in deinem System. Sie sind ein Schutz. Sie zeigen, dass du schützenswert bist. Es ist vollkommen in Ordnung, nicht immer den Mut aufzubringen, über eine bestimmte Grenze zu gehen. Manchmal ist es sogar klug, dort zu bleiben, wo du dich sicher fühlst. Aber es lohnt sich, diese Grenzen liebevoll zu erkunden. Denn sie sind nicht starr. Mit neuen Erfahrungen können sie sich verschieben, ganz von selbst und ohne Druck.

Nimm zum Beispiel den hohen, kraftvollen Ton, den du vielleicht gerne singen würdest. Diesen gebelteten Moment, in dem du dich ganz öffnest und deine Stimme richtig rausträgst. Vielleicht spürst du beim Gedanken daran eine Hemmung. Vielleicht hast du Angst, dass der Ton bricht, dass er zu scharf klingt oder dass du dich blamierst. Dann ist es völlig okay, ihn erstmal nicht zu singen. Du musst nichts beweisen. Du könntest dich mit ähnlichen Tönen beschäftigen, erstmal in die Nähe gehen, statt direkt auf diesen einen Ton zu zielen. Oder du entscheidest dich, in der Zwischenzeit einen anderen Skill freizuschalten. Vielleicht suchst du dir stimmliche Herausforderungen, die für dich machbar sind und dir Freude machen. So lernst du deine Stimme besser kennen, du verstehst, wie sie funktioniert, was sie mag, was sie braucht. Und während du all das erforschst, wächst Vertrauen. Dein System wird sicherer, dein Körper speichert neue Wege. Und irgendwann, ohne dass du bewusst darauf hinarbeitest, ist auch dieser hohe Ton auf einmal da. Dein Atem trägt dich, deine Stimme öffnet sich. Nicht, weil du sie gedrängt hast. Sondern weil du ihr Zeit gegeben hast. Und weil du bereit warst, den Weg dorthin in deinem eigenen Tempo zu gehen.

Feier, was da ist

Statt immer nur auf das zu schauen, was noch fehlt, was du noch nicht kannst, noch nicht weißt, noch nicht kontrollierst, könntest du dich mal fragen: Was ist schon da? Vielleicht ist es ein Ton, der sich heute stabiler anfühlt als gestern. Vielleicht ist es eine Farbe in deiner Stimme, die dich überrascht hat, weil sie etwas in dir zum Schwingen gebracht hat. Oder ein winziger Moment beim Singen, in dem du dich plötzlich ganz bei dir gefühlt hast. Vielleicht war es nur ein einziger Atemzug, der sich frei anfühlte. Aber das reicht. Das sind Meilensteine.

Wir sind oft so geübt darin, nach vorne zu denken, nach dem Nächsten zu greifen, dass wir übersehen, was wir gerade erreichen. Doch jede Veränderung, die sich gut anfühlt, jedes kleine Stück Verbindung, das du dir neu erschließt, ist ein Grund zum Feiern.

Warte nicht auf den großen Durchbruch, auf den perfekten Song, auf das makellose Singen. Perfektion kommt nicht. Und selbst wenn sie es täte, wäre sie womöglich steril und leer. Stattdessen: Feier den Moment, in dem du etwas Neues entdeckt hast. PAAARRRTTYYYY!

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KANADA: Ein Zuhause für meine Stimme