KANADA: Ein Zuhause für meine Stimme
Ich war sechzehn, als ich nach Kanada ging. Ich lebte in einer Gastfamilie, ging auf eine Schule südwestlich von Toronto und war plötzlich umgeben von einer Sprache, die nicht meine Muttersprache war, von Menschen, die ich nicht kannte und von einer Offenheit, die mich völlig neu auf mich selbst blicken ließ.
Die Schule war großartig. Man musste nicht in jedem Fach gleich gut sein, sondern konnte nach eigenen Interessen Schwerpunkte setzen und Schwierigkeitsgrade wählen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass Lernen Spaß machen darf. Es ist nicht bloß Pflicht, kein endloses Abarbeiten, kein ständiger Vergleich mit anderen. Ich durfte Mathe so belegen, dass ich es wirklich verstanden habe. Zum ersten Mal ergab es Sinn. Ich belegte einen Technik-Grundkurs, in dem wir ein Auto auseinander- und wieder zusammenbauten. Im Sportunterricht probierten wir alles aus, von Curling bis Rafting. Ich spielte Theater, sang, schrieb und merkte, wie ich aufblühte, wenn ich Raum dafür bekam.
In Deutschland hatte ich kurz vor meiner Abreise mal wieder einen blauen Brief bekommen. In Kanada habe ich gelernt, dass Lernen mit tatsächlich Spaß macht. Ich bin nicht weniger wert, weil ich in Physik keine Bestnoten hole. Ich bin nicht langsam oder falsch, nur weil ich anders lerne. Ich bin nicht einfach schlecht in der Schule. Ich brauche nur einen Ort, der zu mir passt. Kanada wurde für mich genau so ein Ort. Ein Zuhause für mich und meine Stimme.
Andrew ist mein kanadischer Bruder. Der dachte echt, ich traue mich nicht.
„Andrew… this song is just for you.“
Danach hat die Gerüchteküche monatelang gebrodelt. Ein Skandal, der es sogar ins Jahrbuch geschafft hat. Haha!😉
Singen lernen & erleben
Auch stimmlich war diese Zeit für mich besonders lebendig. Ich hatte schon vor Kanada Gesangsunterricht, auch im Jazzbereich, und sogar einmal in einer Big Band gesungen. Als ich nach Kanada ging, wollte ich damit nicht pausieren, sondern weitermachen und erleben, wie sich meine Stimme in einem neuen Umfeld anfühlt.
Ich hatte Einzelunterricht bei Brenda, einer wunderbaren Lehrerin, von der ich viel gelernt habe. Der Unterricht folgte einem klassischen Aufbau mit viel Nachsingen und Wiederholen sowie dem Arbeiten an Haltung und Klang. Obwohl ich meine Stimme damals noch nicht wirklich hinterfragt habe, machte mir das Singen großen Spaß. Ich durfte Bühnenluft schnuppern, bei Recitals auftreten und kleinere Konzerte geben. Es fühlte sich einfach gut an, frei und ungezwungen zu singen.
Besonders wertvoll für mich war der Chor. An meinem Collegiate war Chor ein reguläres Schulfach, das man wählen konnte und das jeden Tag auf dem Stundenplan stand. Das bedeutete täglich gemeinsam singen, täglich hören und sich auf die Stimmen der anderen einlassen. Unsere Chorleiterin Ann hat uns viel zugetraut. Ich stand in den Proben in einer festen Stimmenreihe direkt zwischen Ryan im Tenor und Ceri im Alt. Regelmäßig wurden wir in kleinere Gruppen eingeteilt, in denen jede Stimme nur einmal vertreten war. So musste ich wirklich sicher in meiner Stimme sein, ohne mich an andere anlehnen zu können. Das hat mich sehr geprägt. Ich wurde sicherer, selbstbewusster und lauter. Und ich habe gelernt, mich sowohl stimmlich als auch innerlich zu behaupten.
Der Zusammenhalt in unserem Chor war einfach großartig. Wir unterstützten uns gegenseitig, motivierten uns und feierten unsere Erfolge gemeinsam. Es entstand ein echtes Gemeinschaftsgefühl, das weit über den Unterricht hinausging. Dieses Miteinander hat das Singen noch schöner gemacht und mir gezeigt, wie viel Kraft und Freude in einer Gruppe steckt, die gemeinsam an einem Ziel arbeitet.
Wir hatten regelmäßige Konzerte in Kirchen, bei Schulversammlungen oder Benefizveranstaltungen. Die größte Reise war unsere Chortour durch die USA. Zum Abschluss sangen wir auf einem Festival gemeinsam mit 27 anderen Chören. Über 1000 Menschen, vier gemeinsame Stücke. Mit so vielen Stimmen zu singen war überwältigend. Ein Moment, der tief geblieben ist. Ich habe dort gespürt, was Musik auslösen kann und wie stark man sich fühlen kann, wenn man Teil eines Ganzen ist.
Senior Choir - Na? Wer findet mich?
Ein zweites Zuhause
Gleichzeitig habe ich in meiner Gastfamilie ein zweites Zuhause gefunden. Meine Gastgeschwister nahmen mich vom ersten Tag an auf wie ein Familienmitglied. Natürlich war es am Anfang ein vorsichtiges Kennenlernen, aber ich war schnell mittendrin im Alltag, in ihren Scherzen und Diskussionen. Ich musste mich nicht verstellen. Ich wurde gemocht, einfach weil ich ich bin.
Das war für mich besonders wertvoll. Als Kind bin ich oft umgezogen und habe mich immer wieder neu angepasst, um gemocht zu werden. In Kanada musste ich das nicht. Die Menschen waren interessiert an mir, so wie ich bin. Ich war willkommen, ohne etwas leisten oder darstellen zu müssen. Ich hatte eine Stimme, nicht nur beim Singen, sondern auch im Leben.
Letztes Jahr war ich wieder dort, zu Besuch bei meiner kanadischen Familie. Der letzte Besuch lag fast zehn Jahre zurück. Trotzdem war das Gefühl sofort wieder da. Vertrautheit. Angekommen sein. Alles in mir wusste, ich gehöre hierher. Ich wurde umarmt, bekocht, ausgefragt und zum Lachen gebracht. Es war, als wären keine Jahre vergangen, sondern nur ein paar Wochen. Ich wurde gesehen. Nicht wegen dem, was ich tue, sondern einfach, weil ich da bin.
Was bleibt
Mit meinen kanadischen Eltern an den Niagara-Fällen. Dad schmunzelnd 'Müssen wir da schon wieder hin? Ich war fünf mal da. Und fünf mal mit dir! … Ich geh aber nicht auf dieses Boot. Nur, dass ihr’s wisst.'
An meiner alten Schule unterrichten heute nur noch wenige meiner damaligen Lehrerinnen und Lehrer. Und doch hat der Ort nichts von seiner Bedeutung verloren. Die Räume, die Flure, die Bühne tragen Erinnerungen. An Aufbrüche, an erste Schritte, an Herausforderungen, die ich gemeistert habe. Es ist ein Ort, der mich geprägt hat, weil ich dort erleben durfte, wie viel entstehen kann, wenn man Menschen Raum gibt, zu wachsen.
Denn Stimme, das habe ich dort gelernt, ist so viel mehr als Klang.
Stimme ist Ausdruck. Vertrauen. Haltung. Und manchmal ist sie das Zuhause, das wir so lange in uns selbst gesucht haben.
Sie zeigt sich, wenn wir uns sicher fühlen. Wenn wir verstanden werden. Wenn wir aufatmen können.
In Kanada habe ich das zum ersten Mal so tief gespürt.
Und vielleicht ist das der Grund, warum ich dort nie nur zu Besuch bin,
sondern immer auch ein Stück zurückkomme zu mir.